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Interview with Alessandro Melazzini, August 2008

 

 

Roberto Prosseda, der Pianist auf dem Jahrmarkt von Samarkand

 

Roberto Prosseda hat von Kindheit an, außer seine Tage vor den Klaviertasten zu verbringen, seine schulische Ausbildung mit Auszeichnung absolviert. Dann gewann er mehrere Musikwettbewerbe, empfahl sich für renommierte Musiklabels, die ihn unter Vertrag haben und hat sogar unveröffentlichte Manuskripte großer Komponisten gefunden. Heute reist Prosseda um die Welt und ist einer der besten italienischen Pianisten für klassische Musik. Bei all dem mögen einige Leser denken, dass er sich als Klassenprimus aufspielt. Doch nein: Er ist sympathisch, nicht dröge, sondern glücklich verheiratet und gerade Vater einer Tochter geworden. Trotzdem gibt es eine Sache, die mir an seiner Kleidung nicht gefällt.

 

Wie kommt es, dass du in deinen Konzerten oft Hemden mit orientalischem Schnitt trägst?

Die sind sehr bequem. Bevor ich diese chinesischen aus Seide hatte, habe ich marokkanische aus Baumwolle getragen. Es sind bequeme Hemden, weil sie es erlauben, sich mühelos zu bewegen. Denn das Spielen hat auch einen athletischen Aspekt.

 

Wie das?

Ein Hundertemeterläufer würde niemals im Smoking rennen. Dagegen ist es normal, wenn ein Pianist, auch wenn er physisch anstrengende Stücke spielt, bei dem er sich mit Oberkörper und Armen bewegt, daran leidem muss, in ein Kleidungsstück aus vergangenen Jahrhunderten eingezwängt zu sein. Das Problem ist, dass auch wir Pianisten für die meisten Leute zu einer anderen Epoche gehören. Die Hemden hängen mit den Reisen zusammen, die ich gemacht habe, in Marokko hatte ich zweimal die Gelegenheit zu spielen, dann war ich oft in Fernost, und so bin ich zu den chinesischen Hemden gekommen, schöneren, aus Seide von große Qualität und von Hand maßgeschneidert. Mittlerweile ist es Tradition, jedesmal, wenn ich nach Shanghai komme, kaufe ich immer eines.

 

Wieviel kosten sie?

Naja, in China ist Handeln mehr als eine Tradition: sozusagen eine Pflicht. Wenn man nicht handelt, sind sie beleidigt. Wenn du hartnäckig bist, geben sie sie dir am Schluss für 30 bis 35 Dollar. Das hängt auch stark von der Qualität ab, die du auswählst. Die von der Stange aus einer Seide von minderer Qualität kosten 7 Dollar, aber von denen ist abzuraten.

 

Und du merkst, dass die Hemden tatsächlich deine Art zu spielen während des Konzertes beeinflussen?

Ja. Wenn du spielst, hat alles Einfluss, von dem, was du gegessen hast bis zur Temperatur. Ich gehe zum Beispiel vor einem Konzert immer duschen, um die Spannung zu lockern, so fühle ich mich entspannter. Und auch wenn es nicht so sein mag, bin ich überzeugt, dass es so ist, und das ist ja auch etwas. Jedes mal ist es zumindest ein Wettkampf gegen sich selbst, mit dem Ziel immer besser zu werden.

 

Und stimmt es, dass in China klassische Musik die Massen begeistert? Warum?

Für die ist sie etwas neues. Sie hat nicht diesen Beigeschmack von Museum, den sie leider in unserer Gesellschaft trägt, wo das Hören von klassischer Musik eine Reihe von Stereotypen mit sich bringt: Man muss sich in bestimmter Weise kleiden, eine gewisse Haltung einnehmen usw. In China ist das nicht so. Da gibt es Spielzeiten, in denen sich klassische Musik mit anderen, für sie recht exotischen Klängen abwechselt. Vom südamerikanischen Tango über die europäischen Klassik zur südafrikanischen Musik. Motiv für so eine Flexibilität ist, dass bei uns klassische Musik eine Hauptrolle in den Programmen der Konzerthäuser spielt: Es wäre undenkbar eine Spielzeit nur mit chinesischer Musik zu machen, wohingegen es bei ihnen recht unüblich wäre, eine ganze Saison europäische Musik zu spielen. Sicherlich kann man die Popularität der klassischen Musik in China nicht mit derjenigen der chinesischen in Europa vergleichen, wobei man sich bewusst machen muss, dass auch sie eine wichtige Tradition hat, die durchaus mit unserer vergleichbar ist. Aber unter uns sind wir ganz schön stolz auf unsere Vergangenheit, sie hingegen sind mehr an der Musik, die von außen kommt, interessiert, als an der eigenen.

 

Warum?

Ich denke, das ist eine Art und Weise, die Vergangenheit zu überwinden. Das ist ein wenig traurig, denn China läuft Gefahr, die eigene Tradition zu vergessen, um sich den westlichen Standards anzupassen, die nicht immer tout court positive Beispiele sind.

 

Was liebt das chinesische Publikum besonders an deinem Repertoire?

Den Teil, der weniger interessant ist. Die Chinesen, auch die chinesischen Organisateure, wollen immer die gleichen Stücke gespielt bekommen, die bekanntesten, wie Beethovens Mondschein-Sonate, die er übrigens nie so genannt hat, oder die berühmten Stücke von Chopin, Mozart, Čaikovskij, Schubert, Schumann, Liszt; kurz: Die erste CD mit klassischer Musik, die man in einer Raststätte bekommt, das ist das Repertoire, das chinesischen Konzertveranstaltern gefällt. Übrigens sind das sehr schöne Stücke, wenn wir einmal Für Elise ausklammern, das ich doch für eine Komposition von arg relativem Wert halte, angesichts dessen, was Beethoven geschrieben hat. Dann bin ich auch dazu gekommen, ja, sie haben es mir im Wortsinn aufgezwungen, Stücke der chinesischen Piano-Tradition zu spielen, was ich tatsächlich sehr gern getan habe. Es handelt sich da um Stücke, die ein Kulturfunktionär in einer Anthologie gesammelt hat, von der Mitte des letzten Jahrhunderts. Das ist gewissermaßen die Bibel der Studenten an den unzähligen chinesischen Musikhochschulen, Schüler, deren Zahl mittlerweile an die Dutzende Millionen geht. Manche behaupten, dass es schon an die 50 bis 60 Millionen seien.

 

Ein Italien nur aus Pianisten?

Vielleicht eine übertriebene Zahl, aber Millionen sind es sicherlich. Und alle sehr jung. Wenn es so weiter geht, und wenn China wirtschaftlich weiter wächst, wie in diesen Jahren, dann werden die Chinesen das größte und einflussreichste Publikum der Welt werden. 

 

Doch abgesehen von den Standards für Chinesen ist dein Name zweifellos mit jener Aufnahme unter dem Titel Mendelssohn Discoveries verbunden, die auch das Wall Street Journal gelobt hat und die nie zuvor aufgeführte Musik bietet. Wie hast du es geschafft, Unveröffentlichtes von Felix Mendelssohn zu finden?

Eigentlich eher zufällig. Als ich eine Platte aufnehmen sollte, bemerkte ich, wie spannend es ist, verlorene Kompositionen zu suchen…

 

Spannend, wenn du sie findest, denn wenn du leer ausgehst…

Bedenke, dass ich, als ich die unveröffentlichten Stücke von Mendelssohn gefunden habe, eigentlich etwas ganz anderes gesucht habe, eine Komposition, die ich bis heute nicht gefunden habe und von der ich im Moment hoffe, dass ich sie erst in ferner Zukunft finden werde, angesichts dessen, was ich in der Zwischenzeit aufgetan habe.

 

Was hast du gesucht?

Etwas scheinbar sehr viel einfacheres, nämlich eine Ekloge von Goffredo Petrassi, ein Klavierstück, von dem es verschiedene Spuren gibt und das ich übrigens schon gesucht habe, als Petrassi noch am Leben war. Es schien keine so schwierige Aufgabe zu sein, aber er selbst sagte mir, er habe es verloren. Ich verstand, dass er in Wirklichkeit gar nicht wollte, dass man es wieder fände, so habe ich nicht weiter darauf beharrt. Bei der Gelegenheit lernte ich die Mechanismen der Bibliothekskatalogisierung kennen und konnte mich in der Welt von Musik-Manuskripten orientieren. Kurz darauf, im Jahr 2000, nutzte ich anlässlich eines Konzertes mit Musik von Salieri die Gelegenheit, um etwas von ihm zu suchen, und ich fand in der Wiener Nationalbibliothek eine unveröffentlichte Sonate für Pianoforte, die in einem Aufsatz seines Biographen Rudolph Angermüller erwähnt wurde. Ähnlich ging es im Fall von Mendelssohn, als 2003 der Henle Verlag in München einen Katalog der Handschriften Mendelssohns in der Berliner Staatsbibliothek (ehemals DDR) veröffentlichte. Aber glaub nicht, dass ich als Trüffelschwein die Manuskripte in Kellern durchstöbert habe. Dank des Internet und verschiedenes Musikzeitschriften konnte ich schnell recherchieren, ohne mich direkt vor Ort zu begeben

 

Hat die Tatsache, dass ein Komponist wie Mendelssohn als Jude unter den Nazis verboten war, dazu beigetragen, dass viele seiner Partituren unbeachtet blieben?

Ganz sicher, doch wenn man genau nachsucht, könnte man vielleicht auch unveröffentlichte Manuskripte berühmterer Komponisten wie Beethoven oder Schumann finden, natürlich zweitrangige Werke. Aber während das Werkkorpus dieser und anderer Musiker des neunzehnten Jahrhunderts heute publiziert ist, befindet sich dieser Prozess für Mendelssohn noch im Werden, da die Katalogisierung seiner Werke von der Musikwissenschaft der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vernachlässigt wurde. Jene Arbeit, die Köchel per Mozart und Otto Deutsch per Schubert geleistet haben und die für Bach und Beethoven abgeschlossen ist, wird für Mendelssohn noch nicht geleistet. Jetzt ist endlich in Leipzig die Katalogisierung seiner Werke begonnen worden, die eine frühere Entdeckung verdient hätten und die sicher auch wegen seines Judentums geschnitten wurden. Schon seine Eltern waren sich über die Nachteiligkeit ihrer Situation im klaren, so dass sie zum Protestantismus übertraten. Mendelssohn dagegen hatte das Glück, wohlhabend geboren zu sein, und seine Eltern ließen ihm und seinem Bruder eine ideale Erziehung angedeihen, angeblich hat er die deutsche Literatur von keinem geringeren Vermittler als dem alten Goethe erlernt, der auch seinen musikalischen Geschmack beeinflusst zu haben scheint, indem er ihn zu einer eher traditionellen Empfindsamkeit bewegte, was Felix Mendelssohn auch verschiedentlich Kritik eingebracht hat. Ganz abgesehen von der rassistischen Parteinahme Wagners, für den seine Musik «nach Synagoge stinkt». Dabei scheint Mendelssohn niemals eine Synagoge betreten zu haben, wohingegen es Beweise gibt, dass Wagner ihn großzügig kopiert hat.

Ich werde bald Gelegenheit haben wieder über Mendelssohn zu sprechen, da ich mit Deutsche Welle eine Dokumentation über viele Orte drehen werde, die er besucht hat; etwa Leipzig, ein Paradies für Musikfreunde, da man nur wenige Schritte voneinander entfernt das haus von Schumann, Bach und Mendelssohn besuchen kann. Dieser war ein neugieriger und aufmerksamer Reisender, der uns einige detailreiche Reiseaufzeichnungen hinterlassen hat. Ich denke da an einige Schriften von seiner Reise nach Italien. Die würden auch den Lesern von Führern à la Lonely Planet gefallen.

 

Du bist ein “absolutes Gehör”. Jedem, der nicht an Musik denkt, erscheint das als Beleidigung [Wortspiel im Deutschen nicht nachzuahmen! ggf. Kommentar], doch es ist ein Talent. Eines, das sich auszahlt?

Gehen wir vor allem davon aus, dass ich das absolute Gehör habe. Ich weiß nicht, ob es sich auszahlt. Es ist eine unter Musikern vergleichsweise verbreitete Eigenschaft, die exakte Note zu irgendeinem Ton bestimmten zu können, den man gerade hört. Wer ein sehr entwickeltes absolutes Gehör hat, kann die Noten eines heruntergefallenen Glases oder einer Autohupe entziffern. So gesehen scheint es eine unnütze Sache zu sein, nur eben um Eindruck bei den Freunden zu schinden. In Wirklichkeit ist es von Vorteil, wenn man eine Orchesterpartitur hört oder mir anderen zusammen spielt, wenn man mit größerer Detailtreue alle Noten eines Stückes unterscheiden kann. Zum Beispiel ist es nützlich für einen Dirigenten zu bemerken, wo ein Orchester falsch spielt. Im Grunde ist das “absolute Gehör” die Fähigkeit, musikalische Geschehnisse zu überwachen.

 

Zu überwachen und zu zerlegen.

Genau. Und es gibt verschiedene Arten des absoluten Gehörs, die nicht immer gleich ausgeprägt sind. Solche, die auf dem Erkennen der Höhe eines Einzeltons beschränkt sind und solche, die in der Lage sind, einen komplexen Ton zu zerlegen. Dann gibt es das passive absolute Gehör, mit dem man in der Lage ist die Note zu erkennen, die zu einem gehörten Ton passt, und es gibt das aktive absolute Gehör, mit dem man nach Belieben eine Note anstimmen kann, ohne sie beim Hören entziffern zu können. 

 

Und welches hast du?

Ein passives ”polyfones” absolutes Gehör. Ich höre die Noten und in meinem Inneren werden die zugehörigen Tasten des Pianos aufgerufen. Meine Frau Alessandra, die auch Pianistin ist, hat ein aktives Gehör. So gut wie alle, die eine solche Fähigkeit haben, hatten ein bewusstes musikalisches Hör-Erlebnis vor dem dritten Lebensjahr, denn im jüngsten Alter ist das Gehirn in der Lage, die Frequenzen der Töne abzuspeichern und sie einem Klang zuzuordnen.

 

Also hast du seit frühster Jugend mit der Musik angefangen.

Ja, mein Vater hatte immer eine große Leidenschaft für Musik und für Instrumente, von denen ich eine recht große Sammlung besitze, die ich im Laufe meiner Reisen dann ausgebaut habe, indem ich von exotischen Orten, an denen ich gespielt hatte, Souvenirs mitbrachte. Aber er hat nie ein Cello gehabt, sein Lieblingsinstrument. Als ich zwei Jahre alt war, hatte er die Idee, einen Metallsteg auf eine Violine zu setzen, und mir darauf das Cellospiel beizubringen, da es nun perfekt zu meiner kleinen Statur passte. Das war meine erste bewusste musikalische Erfahrung. Außerdem hab es im Haus auch ein großes Klavier mit vielen Ornamenten, das mir als ziemlich beeindruckendes Möbel erschien. Als ich einmal ein Miniatur-Tischlerset geschenkt bekam, machte ich mich mit großem Stolz daran, eine Ecke davon abzuhobeln.

 

Wie das wohl deinem Vater gefallen hat…

Das lassen wir lieber… soviel nur, um dir zu sagen, dass ich immer eine spielerische Beziehung zur Musik hatte, da war nie ein Gefühl von Pflicht. Meine Eltern haben mir früh das Notenlesen beigebracht, eine für mich ganz natürliche Sache, aber sie haben mich nie gezwungen, Musik zu studieren, obwohl ich schon knapp sechs Jahren begonnen hatte. Damals unterhielt ich mich auch damit, kleine Kompositionen zu schreiben. Zu Beginn schien es fast, als wäre ich zu einer Tätigkeit als Komponist geeignet. 

 

Dann?

Dann, mit dreizehn, vierzehn wurde mir klar, dass alles, was ich komponiert hatte, auf etwas beruhte, was zuvor schon existierte . Und ich ließ es bleiben.

 

Ein Trauma?

Sicherlich eine Enttäuschung. Ich war ziemlich stolz auf meine Kompositionen, denn sie waren spontan gewesen, aber offensichtlich handelte es sich um eine Spontaneität, die darauf beruhte, dass ich unbewusst Musik wiederverwendet habe, die ich zuvor gehört und reproduziert habe, ohne die erforderlichen Kunstgriffe, um sie mir anzueignen. In den besseren Fällen wirkten sie wie stilistische Kopien von Kompositionen des achtzehnten Jahrhunderts, in den schlimmsten, fast immer, um wirkliche und wahrhaftige Plagiate.

 

Von diesem Moment an hast du das Komponieren aufgegeben und dich entschlossen, Pianist zu werden. Böswillige könnten einwenden, dass, gemessen an deiner ursprünglichen Tendenz, die Entscheidung, “nur” Interpret zu sein, also einen Beruf zu haben, der keine direkte Produktion vorsieht, sondern die Reproduktion von dem, was andere schon geschrieben haben, ein Rückschritt sei.

Ach, ein befreundeter Ingenieur hat mich einmal gefragt, wozu ein Dirigent gut sei, wenn es doch eine Partitur gäbe, an die sich jeder halten könne. In Wirklichkeit ist die schriftliche Notation absichtlich sehr allgemein, basiert auf Konventionen und hält einen großen Entscheidungsrahmen für die Aufführenden vor, die man Interpreten nennt, weil sie sich eben nicht auf die Reproduktion von Dingen, die andere geschrieben haben, beschränken, wie das ein automatischer Mechanismus könnte, sondern ihm ein Erlebnis, eine emotionale Beteiligung einprägen müssen, welche nicht von den persönlichen Erfahrungen desjenigen absehen kann, der diese Musik liest und dem Publikum darbietet. Das ist ein sehr reizvoller Aspekt, der deutlich macht, wie auch und gerade die Arbeit des Interpreten künstlerisch und kreativ ist. Ansonsten könnte man einem Schauspieler, gar einem Shakespeare-Darsteller, vorwerfen, dass seine Rolle darin bestehe, aus dem Gedächtnis das zu wiederholen, was ein anderer geschrieben habe. 

 

Bedeutet das, dass ein Pianist auch ein wenig Schauspieler ist?

Die Musik insgesamt hat einer wichtige dramatische Seite. Insofern sie es einem erlaubt, Mittler für Gefühle und poetischen Ausdruck zu sein, die auch dank eines gestischen Einsatzes ans Publikum weitergegeben wird, durch Mechanismen, die denen der Rezitation ähneln. Aber da ist noch mehr. Wenn wir spielen, müssen wir in verschiedene Rollen schlüpfen, und das gleit nicht nur für Oper, wo man per definitionem Theater macht, sondern es gilt auch, wenn man Musik für Klavier solo oder Kammermusik spielt, auch wenn ein direkter Bezug zum außermusikalischen Kontext fehlt. Dennoch, in Wirklichkeit gibt es immer eine Spur, eine Route, ein Motiv, eine Entwicklung, eine dramatische Spannung, ohne die Musik keine Kunst wäre. Und selbst wenn sie ausdrücklich eine gewisse Dramatik leugnet: In Wirklichkeit weist sie sie ex negativo auf. All das macht die Interpretation reizvoll , und auf der Bühne muss der Interpret diese Fähigkeiten haben, um dem Publikum jene Botschaft zu übermitteln, die er selbst in der Musik gefunden hat und die er zu übermitteln und zu verkörpern versucht. Deshalb fließt bei der Aufführung eines Stückes nicht nur das technische Begreifen der kompositorischen Mechanismen, auf der Grundlage der musikalischen Schöpfung und eines kulturellen Verständnisses für die Umgebung in der das Werk Form und Leben erhalten hat, ein, sondern auch die persönliche Erfahrung des Interpreten, die sogar denen des Publikums ähneln, im Vergleich zu etwa denen eines Komponisten, der dreißig Jahre vorher gelebt hat. Der Interpret hat die wichtige Rolle als Mittler inne, als Fährmann, wenn man so will: als Übersetzer einer Botschaft, die viele Jahre zuvor erdacht wurde, die aber in der Kraft ihres absoluten Wertes und zeitübergreifend jedenfalls aktuell bleibt. Dieser Wert kann sogar noch aktueller werden, wenn man in der Lage ist, ihn in eine Form, die dem heutigen Publikum verständlicher ist, neu einzukleiden.

 

Du hast von einer Jahrhunderte zuvor geschriebenen Botschaft gesprochen. Aber auch heute wird “klassische Musik”, oder besser: Musik geschrieben... 

Man spricht konventionell von “E-Musik”, um sie von der U-Musik, oder der kommerziellen zu unterscheiden, die nicht dafür gedacht ist, eine hohe künstlerische Ebene zu erreichen – wenngleich manchmal auch so etwas vorkommen kann –, sondern zum Verkauf von Platten. Um die Wahrheit zu sagen, halte ich aber nicht viel von solchen Unterscheidungen, die oft zu den reinsten ideologischen Schranken werden. Denken wir an Schubert, der viel “Gebrauchsmusik” geschrieben hat: Einige seiner Walzer sind direkt für den Tanz komponiert worden. Heute hat sich ein Konzept von klassischer Musik herauskristallisiert, das sie als etwas mit einem so hochstehenden Wert ansieht, das man sie nicht mit anderen Tätigkeiten während des Anhörens vermischen darf. Eine solche Haltung kann für die großen Komponisten gelten, doch gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass die meiste klassische Musik nicht für die Aufführung vor Zuhörern in andächtigem Schweigen geschrieben wurde, sondern als Gebrauchsmusik, mit einer Funktion für ein anderes Zuhören. Übrigens waren sich die Komponisten in dem Moment keineswegs darüber im klaren, dass sie ein Meisterwerk schrieben, weil ihr Ziel vielleicht war, wie im Falle Bachs, eine Kantate für den kommenden Sonntag zu schreiben. Oder wie im Falle so vieler anderer, einfach weil sie über die Runden kommen mussten. Doch bei Mendelssohn, der selbst reich war, ist das nicht der Fall. Davon abgesehen waren einige der Musiken, die heute konzertant aufgeführt werden, damals Szenenmusiken, wie die für Ein Mittsommernachtstraum, die Mendelssohn komponiert hat.

 

Aber was bedeutet es, 2008 “E-Musik” zu schreiben?

Diese Frage kann man nicht so leicht beantworten. Ich erinnere mich an eine berühmte Anekdote von einem befreundeten Komponisten, Carlo Boccadoro, der einmal im Zug mit einem kleinen Jungen sprach, der ihn fragte, was er von Beruf sei. «Ich bin Komponist», antwortete ihm Boccadoro. Und der Junge: «Wirklich? Und ich dachte, alle Komponisten wären tot.» Tatsächlich ist es schwierig sich vorzustellen, dass es heute Komponisten gibt, die an Musik unabhängig von ihren praktischen Funktionen arbeiten, wie denjenigen in Spiel- oder Dokumentarfilm. Doch es gibt sie. Ich denke an Luca Lombardi, einen der wenigen zeitgenössischen italienischen Komponisten, der von seinr Arbeit leben kann, ohne zugleich Dozent, Art Director oder dergleich zu sein, dank den Aufträgen von Institutionen, oftmals ausländische, zum Beispiel deutsche. Aber um deine Frage zu beantworten: Heute Komponist zu sein bedeutet für mich, seine eigene Sensibilität und Erfahrung fruchtbar machen zu können, sie zu bearbeiten, um ein Werk zu schaffen, das eher Kriterien künstlerischer Qualität und Integrität gehorcht als dem Verlangen, einfach dem Publikum zu gefallen. Sicherlich ist es ein Metier, das den Erfordernissen heutiger Gesellschaften, die immer mehr dem Gesetz des leichten Erfolgs anhängen, entgegensteht.

 

Hingegen ist das Pianistendasein sehr “trendy”. Was bedeutet das für den Beruf, den du ausübst?

Eine Lebensentscheidung bedeutet einen bestimmten Blick auf die Welt, die Wirklichkeit, die Existenz. Das heißt: Zu versuchen, all die Schönheit und die Welten, oft überraschenden und sehr voneinander verschiedenen Welten zu entdecken, die in Musik-Partituren verborgen liegen, sicherlich nicht nur in jenen für Piano; und ist diese Schönheit und Magie einmal gefunden, alles Mögliche zu tun, um andere daran teilhaben zu lassen, also das Konzertpublikum und all jene, die diese Aufnahmen hören. Das schließt viel Arbeit zur Annäherung an die Quellen ein, nicht nur der Partitur, sondern auch all dessen, was dahinter steht, wie zum Beispiel das Studium der Instrumente, auf denen die Stücke konzipiert wurden, dann zu begreifen, was wir heute tun können, um das, was mit einer anderen Klanglichkeit geplant wurde – nicht so sehr weil die Instrumente andere waren, sondern auch weil die Klangvorstellung von damals eine andere war – werkgetreu, aber auch passend zu übersetzen, passend zur Welt, den Instrumenten, dem Ohr und dem Publikum von heute. Heute kennen wir Klänge, die es damals nicht gab, wie zum Beispiel Rock und elektronische Musik. All das kann ein heutiger Interpret nicht vernachlässigen. Er muss deutlich machen, dass eine Note Beethoven genauso reich an Energie und revolutionärer Kraft war, genauso in der Lage, zu schocken oder dich vom Sitz zu reißen, wie es ein Stück von Jim Morrison oder Pink Floyd kann. Das ist die Rolle, die uns Pianisten erwartet und die wir oft aus Trägheit vergessen mögen. All das steht dann auch noch zu den Erfordernissen des Marktes in Beziehung. Traurig zu sagen, aber unser Beruf braucht, um sich weiter zu entwickeln, um gut gemacht zu werden, Bedingungen, unter denen man spielen und Platten aufnehmen kann. Die Welt des Managements für klassische Musik ist immer mehr der Welt des Marketings und der Bilder abhängig, einer PR, die oftmals mehr auf äußerem Schein fusst ist als auf wirklich künstlerischen Interessen. Man muss versuchen, die innere Qualität der Musik zu verteidigen, ohne die Erfordernisse der modernen Gesellschaft zu vernachlässigen.

 

Um Pianist zu werden, muss man eine lange Ausbildung durchlaufen, auf die du schon im Zusammenhang mit deiner frühen Jugend angespielt hast. Zwischen Gymnasium – einem klassischen, natürlich – und Konservatorium hast du sehr beschäftigte Jahre gehabt. Wie hast du deine Jugendzeit verbracht?

Ich erinnere mich an sehr ausgefüllte Tage, oft in exzessiver Eile. Nach dem Morgen im Gymnasium Zeit für ein Panino, um dann ins Konservatorium zu gehen, wo man außer dem Instrument auch verwandte Themen studierte, wie Harmonielehre, Musikgeschichte und, in meinem Fall, Komposition. Oft habe ich mich abgeplagt, um alles zu schaffen, und leider gab es keine Zeit für andere Aktivitäten, wie den Sport, den ich vernachlässigt habe und den ich heute nachzuholen versuche, auch wenn die Vaterschaft mir noch weniger Zeit lässt als zuvor. Ich erinnere ermüdende Tage, aber es war nie verlorene Zeit. Die Ausbildung im umfassenden Sinne ist jedoch nicht nur Lernen, sie besteht auch darin, zu reisen, andere Leute kennen zu lernen, neue Welten entdecken, in verschiedene Millieus ein zu tauchen. All das beeinflusst überwiegend die künstlerische Persönlichkeit des Künstlers, das heißt seine Fähigkeit, Kunstwerke zu begreifen, die in ganz anderen Verhältnissen verfasst wurden.

 

Nach dem Gymnasium hast du die renommierte Pianisten-Akademie von Imola besucht und gleichzeitig in Rom Literaturwissenschaft studiert. Musik & Literatur, eine fruchtbare Kombination, Thomas Mann wäre stolz auf dich gewesen.

Meine Wahl war ziemlich traditionell. Eine bequeme Kombination, denn in La Sapienza war es möglich, die Examen vor zu breiten, ohne anwesend zu sein, wie es mir ging, der im Zug zwischen Latina, Rom und Imola studiert hat. Vielleicht wäre es unterhaltsamer gewesen, Musik und Ingenieurswesen zu machen. Es gibt viele mathematische und physikalische Aspekte, die für die Komposition von Musik eine Rolle spielen. 

 

Was war dein erstes echtes Konzert vor zahlendem Publikum? 

Das Konzert als Gewinner des concorso Bucchi in Rom. Ich war elf Jahre alt und spielte eine meiner Kompositionen mit dem Titel Nel Bosco [Im Wald], eine Suite, in der ich symbolisch einen Tag im Wald beschrieb. Wir waren sechs gleichwertige Sieger. Das erste Solo-Konzert fand einige Monate später in einem römischen Gemeindesaal statt, organisiert von meiner Lehrerin am Konservatorium, Anna Maria Martinelli, mit der ich noch in Kontakt stehe und die genau wusste, wie wichtig es war, dem Publikum von klein auf entgegen zu treten. Ich erinnere mich noch, wie aufgeregt ich an diesem Tag war.

 

Heute, da du in den berühmtesten Konzertsälen der Welt gespielt hast, was erlebst du vor der ersten Note?

Es ist niemals dasselbe Gefühl, sonst würde ich viel besser wissen, wie ich reagieren soll. Das Spielen vor Publikum ist ganz anders als das Spielen allein im eigenen Haus oder im Saal, wo man übt. Und ich meine das im positiven Sinne, denn die Zuhörer können dem Künstler in der Regel eine Seite entlocken, die ansonsten verborgen bliebe. Ich denke, das gilt für alle Berufe, in denen man vor Publikum treten muss. Es gilt für Musiker, es gilt für Schauspieler, es gilt wohl auch für Fussballspieler. Wenn es ein wichtiges Konzertsaal ist, oder wenn es auch eine Radioübertragung gibt, ist der Stresslevel höher, und Ziel ist es also zu versuchen den großen emotionalen Druck in positive Energie zu verwandeln, ohne in Panik zu geraten und im Bewusstsein, dass da ein Publikum gekommen ist, um dich zu hören; ein Publikum, das wie wir die Musik wertschätzt und Augenblicke von besonderer Tiefe erwartet. Das ist eine Überlegung, die ich mir jedes mal vor einem Konzert wieder klar mache, offenbar reicht es nicht aus, die Anspannung zu bannen oder die Furcht davor, nicht in Bestform zu sein, nicht allen zu gefallen, sondern ich bemerke, dass es wichtig ist, eine persönliche und direkte Beziehung zum Publikum herzustellen. Oftmals – und ich bin sicherlich nicht der erste, der das sagt –, suche ich mit ein einzelnes Gesicht aus dem Publikum aus, eine Person, auf die mein Blick fällt und die mich konzentriert beobachtet. Es ist besonders diese Person, an die ich mich dann während der Aufführung richte.

 

Ist es dir je passiert, dass diese Person deine Aufmerksamkeit bemerkt hat?

Nein, das könnte sie nicht. Ich fixiere sie ja nicht während ich spiele! Manchmal denke ich an jemanden, der mir lieb ist und von dem ich vermute, dass er beim Konzert anwesend ist, dann bemerke ich, er war nicht da. Wichtig ist also der Wille, mit dem Außen zu kommunizieren, auf eine natürliche, spontane, nicht exhibitionistische oder oberflächlich spektakuläre Weise. Das Konzert ist keine Show, die zur Unterhaltung oder zur Ablenkung der Leute dient, sondern etwas besseres. Es ist eine Erfahrung, eine innere Reise, auf der im besten Falle der auf der Bühne denjenigen aus dem Publikum führt, der zu folgen bereit ist. Das kann geschehen oder nicht, mit einer, zehn oder hundert Personen, aufgrund vieler Faktoren, die mal mehr, mal weniger zusammenstimmen. Einer ist die Nähe, die man zum Publikum schaffen kann: Wenn es sehr unruhig ist, könnte ein Pianist denken, es sei seine Schuld, weil er keine Aufmerksamkeit erzeugen könne, und so beschwört man einen Mechanismus gegenseitigen Zweifels herauf, der keiner Seite etwas bringt; und es besteht das Risiko, dass man mit Autopilot spielt, ohne sich zu zwingen, die der Musik innewohnende Kunst so gut wie möglich zu kommunizieren. Wenn man dagegen eine sofortige Stille erzeugt und eine positive Spannung, und diese Alchemie wird vom Künstler bemerkt, dann funktioniert alles besser, und ich selbst erreiche sogar musikalische Aspekte meiner Interpretation, die noch nie zuvor ans Licht gekommen sind. So oder so ist jedes Konzert etwas anderes.

 

Warum?

Die Leistung hängt vom Seelenzustand ab, von der physischen Form, von so vielen vorstellbaren Faktoren. Ein Konzert zu machen setzt eine ganze Reihe von Versiertheiten auf verschiedenen Terrains voraus. Vor allem sollte man nicht die schlicht körperliche Seite unterschätzen, also die psychomotorische Leistung. Ein Konzert zu machen bedeutet auch, für zwei Stunden absolute Kontrolle über den eigenen Körper haben zu müssen, besonders über die Hände, aber auch über die Füße, denn die Pedale sind für eine Aufführung fundamental wichtig. Diesen Aspekt muss man zur mechanischen Effizienz des Pianos ins Verhältnis setzen, denn die Muskelbewegungen des Pianisten, die in den Fingerspitzen zusammenfließen, sind nichts anderes als der Beginn einer Übertragung von musikalischen und poetischen Informationen, nicht nur klanglichen, die sich in der Vibration der Klaviersaiten offenbaren. Es ist eine Absicht, die, bevor sie zu sich selbst kommt, durch eine Unendlichkeit von mechanischen Hebeln gehen muss, welche die Bewegung der gedrückten Taste übertragen. Generell entsteht Musik aus der Teilhabe einer großen Menge von Elementen. Es gibt Melodielinien, die nebeneinander bestehen, lediglich indem jede ihre eigene Unabhängigkeit bewahrt. Es gibt ein Bewusstsein der musikalischen Form, das es erlauben muss, abgesehen von kleinen Details, eine Spannung durch zu halten, die fünfzehn oder zwanzig Minuten anhält. Dieser Prozess erfordert nicht nur eine große physische Leistungsfähigkeit, sondern auch tiefe Konzentration, die gleichwohl nicht die Freiheit, sich der Inspiration zu überlassen, einschränken darf. Aber auch indem man nur die Mechanik beterachtet, könnte man der Formel 1 Konkurrenz machen. Ein perfekt gestimmtes Piano erfordert von Seiten der Techniker und Stimmer eine irrsinnige Arbeit die ganze Tage dauern kann und die von einer einfachen Veränderung der Luftfeuchtigkeit ruiniert werden kann. Abgesehen davon, dass jeder Pianist besondere Bedürfnisse in Bezug auf die Stimmung und die Regulierung des Pianos abhängig vom jeweiligen Repertoire und dem bestimmten Saal hat. Denn auch die Akustik ist grundlegend. Und nicht nur im Parkett, sondern auch auf der Bühne: Was ich höre, während ich spiele, muss dem recht ähnlich sein, was im Zuschauerraum ankommt. Aber einige Konzertsäle erfordern ein anderes Tempo im Zuschauerraum als auf der Bühne, und deshalb muss man die Geschwindigkeit, in der man die Passagen spielt an den Klang, der im Saal ankommt, anpassen, so dass man schließlich lauter spielt oder deutlicher oder weicher, da ansonsten alles zunichte wird und der Zuhörer das Gegenteil von dem wahrnimmt, was mann will, oder nur ein kleines Stück der komplexen Nachricht, die man ihm übermitteln will. Bei all dem hat jedes Konzert immer eine zufällige Komponente, die ich gern habe. Bevor ich nicht die letzte Note gespielt habe, weiß ich nie, wie das Konzert gehen wird. Es kann passieren, dass es alle Bedingungen hat, so dass es gut geht, aber dann geschieht es doch nicht. Oder genau umgekehrt.

 

Wie das eine mal in Usbekistan?

Genau so. Ich war in Samarkand, in einem sehr prunkvollen Theater, wo es aber nur ein altes deutsches Piano gab, das noch aus der Zeit stammte, als Ostdeutschland Teil des Sovjetreiches war. Das Instrument, auf dem ich spielen musste, befand sich in einem solchen Zustand der Vernachlässigung, dass ihm sogar die Pedale fehlten. Ich suchte Hilfe beim Hausmeister des Konzerthauses, und er schlug mir vor sie zu suchen und mich ein wenig umzuschauen. Ich fand sie und befestigte sie mit Scotchtape. Als ich dann fragte, ob es einen Stimmer gebe, sagte er mir, dass er nicht einmal wisse, was das sei, denn dort sei es normal, dass die Pianisten selbst das Klavier stimmten. Undenkbar für jemanden, der an europäische Standards gewöhnt ist. Ich arrangierte mich, aber während ich spielte, gab das Scotchtape nach, und ich musste ohne Pedale spielen, also mit sehr viel trockeneren Klängen, und alles andere als angemessen, da es sich um ein Stück von Chopin handelte. Vor dem Beginn, antwortete mir der Hausmeister auf meine Klage, dass das Klavier völlig verstimmt und weit von meinen Bedürfnissen entfernt sei: «Wenn das Klavier sich nicht Ihren Bedürfnissen anpasst, dann trinken Sie ein wenig usbekischen Vodka, und so nähern Sie sich wenigstens dem Piano an.» Eine durchaus nützliche Philosophie. Was du in Samarkand lernst, ist, dass die übermittelte Nachricht wichtig ist. Man darf sich nicht nur mit der Perfektion des Instruments und der Akustik beschäftigen. In Samarkand hatte das Publikum keine Ahnung davon, was ein Konzert klassischer Musik sei. Es erschien wie ein Jahrmarkt, die Leute kamen mit Popcorn, es herrschte ein ständiges Grundrauschen. Dennoch war die Reaktion und der Enthusiasmus außergewöhnlich, so dass ich sie heute zu meinen schönsten Erinnerungen zähle.

 

Wenn du nicht damit befasst bist, um die Welt zu fahren, wie läuft dein tägliches Leben ab? 

Zum Glück gibt es keine Routine, auch wenn ich oft versuche, die unnützen Reisen einzuschränken, im mehr bei der Familie zu bleiben, oder die Familie direkt auf die Reise mitzunehmen. Übrigens sine meine Frau Alessandra, die nächstes Jahr in Wien und Salzburg debütieren wird, und unsere Tochter Miriam sind mir bisher ohne Probleme gefolgt. Mit nur drei Monaten hatte Miriam schon das Glück die Garderobe Karajans zu benutzen, als ich im vergangenen November mit Alessandra an der Berliner Philharmonie gespielt habe. Es ist sehr schön, die eigene Familie auch in der Nähe zu haben, wenn man auf Reisen ist, vor allem da ich oft allein die Welt bereise. Wenn ich dagegen zu Hause bin, erwische ich mich wider Willen dabei, Beschäftigungen nachzugehen, die gar nichts mit meinem Beruf zu tun haben.

 

Wenn deine Frau nicht Pianistin wäre, hättest du dich genauso in sie verliebt?

Ich weiß es nicht. Ich habe sie auf der Akademie in Imola kennen gelernt, ich bemerkte sie, während sie spielte. Bei diesen Gelegenheiten, wenn man ehrlich und spontan spielt, öffnet man sich ganz, man zeigt sich dem, der die Sensibilität und den Willen hat zu verstehen. Genau das ist mir passiert, während Alessandra sich darauf konzentrierte, ein Intermezzo von Brahms zu spielen. Das war eine echte Erleuchtung, und ich erkannte Seiten ihrer Persönlichkeit, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. insgesamt war es also die Musik, die eine zentrale Rolle gespielt hat. Ja, vielleicht könnte man von Wahlverwandtschaft sprechen. Dank der Musik kann man erkennen, dass man nicht der einzige ist, der eine bestimmte Art von Schönheit entdeckt hat; immer dank der Musik kann man die Schönheit einer Seele erkennen, und aus dieser Entdeckung kann Liebe werden, wie es mir geschehen ist.

 

Wie lebt ihr heute eure gemeinsame Leidenschaft? Als Konkurrenz oder als Gemeinsamkeit?

Es ist sehr schön, einen Großteil unserer Suche teilen zu können. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es mir ergangen wäre, wenn ich jemanden geheiratet hätte, der nicht eine ähnliche Sensibilität und ähnliche Erfahrungen wie ich hatte. Es ist sicher ein großer Vorteil, um so mehr, da unser gleicher Beruf sich zumindest bislang nicht in ein Konkurrenzverhältnis im negativen Sinne verwandelt hat. Es gibt sehr oft Wettbewerb, aber das heißt, der ein lern von der anderen und umgekehrt. Ich bin jetzt so alt, dass ich keine Stunden mehr bei einer Lehrerin nehme: Seit wir verheiratet sind und viele Augenblicke des Tages teilen und über technische und musikalische Entscheidungen diskutieren, haben wir viel voneinander gelernt. Wir kümmerten uns mehr und mehr um die Vorbereitung eines Repertoires für zwei Pianos oder für Piano zu vier Händen. Das ist auch eine Art zu wachsen und die Unterschiedlichkeit einer Person zu akzeptieren, die zum Mehrwert für die Interpretation eines Werkes in noch vollkommenerer und tieferer Weise sein kann, als es der Fall wäre, wenn ich einen Klon von mir als Duo-Partner hätte.

 

Wir unterhalten und gerade in einem Internet-Telefonat. Wie wichtig ist Technik für deinen Beruf?

Technik hat mich immer fasziniert. Mit dem Computer verbringe ich einige Stunden am Tag, wie ich auch jetzt gerade über Skype spreche. Auch mein musikalische Recherche-Arbeit läuft über den Computer, ich benutze Musikverarbeitungsprogramme und bin leidenschaftlicher Fan von HiFi-Systemen. Dann läuft auch die gesamte Korrespondenz, Redaktion von Zeitschriftenartikeln, die ich schreibe, aber auch die Informationssuche im Internet und das Hören von Musik über den Computer. Ich finde, das Internet ist eine großartige Ressource, die es uns erlaubt eine Menge an Informationen zu bekommen, die bis vor wenigen Jahren undenkbar war. Dann gibt es zwar das Risiko, sich darin zu verlieren, aber dieses Risiko hängt von uns ab.

 

Das Internet erlaubt es dir auch, mit Künstlern aus aller Welt in Kontakt zu treten.

Ja, absolut. Viele der Dinge, die ich tue, könnte man ohne internationale Kontakte gar nicht erreichen, die mir via Internet ermöglicht wurden. Als es noch den Fernschreiber gab, wäre es mir nie im Traum eingefallen, ein Fax an einen amerikanischen Musikwissenschaftler zu schicken, den ich nicht kenne. Heute ist es durch die e-mail einfacher und weniger aufdringlich.

 

Ein bestimmtes Beispiel für einen via Internet geknüpften Kontakt?

Um weiter zurück zu gehen: Im Jahr 1997, dem ersten Jahr, da ich im Internet surfte, schickte ich eine Annonce an ein amerikanisches Forum für Komponisten, das lautete «Italienischer Pianist ist interessiert, neue Musik für Piano kennen zu lernen.» Ich hielt das für eine Flaschenpost, aber im Gegenteil: Für mehr als ein Jahr bekam ich stapelweise Manuskripte aller Art. Am Ende wollte ich sie löschen, denn sowohl ich als auch mein Postbote konnte nicht mehr. Zu einem der wenigen Italiener, die mir schrieben, Massimo Lauricella, entstand eine echte Freundschaft. Er hat ein Konzert für mich geschrieben, das ich hoffentlich früher oder später werde aufführen können, ich habe ein Stück von ihm mit dem Titel Nuances aufgenommen. Ein anderer ist Michael Williams, ein Komponist aus Los Angeles, mit dem ich vor Jahren eine Platte mir seiner Musik aufgenommen habe. Ein amerikanischer Musikwissenschaftler, Stuart Isacoff, hat mich über meine Website kontaktiert (www.robertoprosseda.com), nachdem er von meinen Mendelssohn-Funden gelesen hatte. Er hat das Booklet für meine letzte CD geschrieben. In den Musikforen gibt es eine Gemeinschaft von aufmerksamen Hörern, denen nichts entgeht, das ist ein echter Gegensatz zur offiziellen Kritik, die – ach! – immer weniger präsent ist, da die Tageszeitungen weniger Platz für Musikrezensionen einräumen. Oft sind die Internet-Foren eine wichtige Quelle, um etwas kennen zu lernen oder sich weiterzubilden, ergänzend natürlich zur Lektüre von Musikzeitschriften.

 

Und wie wichtig ist die Technik in den Musikinstrumenten, die du benutzt?

Die besten Pianos sind die handwerklich hergestellten. Als Italiener bin ich stolz darauf, dass es hier zwei der weltweit absolut besten Konstrukteure gibt, Fazioli und Borgato. Letzterer ist ein einzelner Handwerker mit seiner kleinen Werkstatt, der mit seine Ehefrau Pianos in Serie produziert. Er baut nur eines auf einmal, ohne jedes technische Hilfsmittel. Unabhängig davon machen die großen Musikunternehmen für ihre neuen Projekte Gebrauch von Computergrafik und akustischen Simulationen. Nützliche Maßnahmen, wenn es darum geht industrielle Produktion wirtschaftlich zu gestalten. Aber das hohe Niveau menschlicher Erfahrung eines Handwerkers bleibt die bessere Wahl. Viel verbreiteter sind dagegen die Wechselwirkungen zwischen Piano und Elektroakustik: Ich hatte Kontakt mit einem belgischen Ingenieur, der eine Art Robot-Pianisten gebaut hat, der in der Lage ist, alle Tasten des Pianos mit einer hochpräzisen Dynamik und perfektem Timing zu kontrollieren und so Kompositionen aufzuführen, die für einen menschlichen Pianisten unmöglich sind. Kurz: Es gibt eine Reihe kreativer Anwendungen, die mit Musik und Elektronik zusammenhängen und die in Zukunft immer wichtiger werden, auch wenn sie recht wenig mit meinem aktuellen Repertoire zu tun haben.

 

Andererseits machst du auch Experimente, wie ein Multimedia-Projekt über die Landschaft und die Klänge Kenias.

Ich finde es sehr inspirierend, sich nicht nur mit Musik zu befassen, die Jahre zuvor geschrieben wurde. Und außerdem hatte ich, wie ich andeutete, immer den Wunsch zu schaffen und zu komponieren, meinem Jugendtrauma zum Trotz. Das Kenia-Projekt entstand daraus, dass ich dieses Land mit einem Kollegen besucht habe, Fabrizio Meloni, der ersten Klarinette an der Mailänder Scala. Wir waren Gäste einer Kunststiftung, der Gallmann Memorial Foundation, im Gebiet des Great Rift Valley, einem atemberaubenden Tal, in dem wir beim Morgengrauen die Elefanten beim Trinke beobachteten. Aus dieser Erfahrung ging eine gemeinsame Komposition hervor, teilweise improvisiert, dann fixiert und aufgenommen, nachdem der Gesang der Vögel in die Notation übertragen wurde, wie das ja früher schon der große französische Komponist Olivier Messiaen getan hatte. Meine akustischen und visuellen Vorstellungen wurden im Studio in Musik umgesetzt, mit denen Fabrizios zusammengeführt und schließlich mit den Bildern eines Fotografen kombiniert, der uns in Afrika begleitet hatte. Wir planen mit unserer Schöpfung auf Tournee zu gehen in den verschiedenen Nationen des Rift Valley, die man ja für die Wiege der Menschheit hält. Vielleicht ist da unten der Mensch entstanden. Das fasziniert mich sehr und, wie alle Dinge außerhalb meines Repertoires, wirkt sich positiv auf diese aus.

 

Außer auf verschiedenen Kontinenten zu spielen hast du dich auch an italienischen Konzertveranstaltern versucht.

Ja, vor allem in meiner Geburtsstadt Latina, wo es überdies seit vierzig Jahren eine berühmte Musikorganisation gibt, den Campus Internazionale di Musica, der das Festival Pontino organisiert. Dort hatte ich in meiner Jugend die ersten Gelegenheiten, berühmte Musiker kennen zu lernen, die später meine Lehrer wurden, wie Charles Rosen und Boris Petrushanskij. Dieser Institution bin ich sehr verbunden und habe ihre in den vergangenen Jahren meinen aktiven Beitrag als künstlerischer Leiter geleistet. Im nächsten Jahr werde ich das Sommer-Festival betreuen, das um den Mythos Odysseus kreist, einen Mythos, der besonders mit diesem Land am Kap Circeo verbunden ist, eine Geschichte, die es erlaubt die Gestalt des Pioniers, die Odysseus war, zu erkunden. Denn in der Musik gibt es viele Pioniere und viele Pioniertaten. Aber Odysseus war auch ein Entdecker udn Reisender, wie es auch Mendelssohn und Mozart waren, und er war ein Abenteurer. Viele Komponisten waren Abenteurer in der Musik. Der Mythos von Odysseus kann viele Reize und Parallelen zur Musik auslösen. Und die Orte der Provinz Pontina, in denen das Festival stattfindet, sind sehr faszinierend, ich denke an die Burg von Sermoneta aus dem dreizehnten Jahrhundert oder die Abtei von Fossanova, wo der Heilige Thomas von Aquin seine letzten Tage verbrachte. Orte mit einer jahrhundertelangen Geschichte, die sich gut eignen, um Ereignisse von hohem kulturellen Wert zu beherbergen, auch weil es dort ein sehr anhängliches Publikum gibt. Aber wie alle Festivals in Italien, erfährt auch das Pontino die Einschnitte der öffentlichen Kassen. Und bei der Kultur einzusparen ist, denke ich, weder eine erfolgreiche noch eine weitsichtige Idee. Wenn ich nicht von klein auf die positiven Anreize des Festivals Pontino bekommen hätte, hätte icih vielleicht heute einen anderen Beruf. Bleibt, wie in den vereinigten Staaten, Deutschland, Spanien, Frankreich, auf die initiative privater Sponsoren zu hoffen. Leider ziehen es in Italien viele Firmen vor, eine Fussballmannschaft zu unterstützen oder auf Veranstaltungen mit leichterer Wirkung zu setzen.

 

Was sind die Gründe dafür, dass in Italien engagierte Musik auf eine randständige Rolle beschränkt zu bleiben scheint, um Unterschied zu dem, was in anderen Ländern geschieht?

Zweifellos ist ein Aspekt der unseres Steuersystems, das Mäzenatentum der Künste nicht gerade anregt. Ein anderer Aspekt hängt mit der schulischen Ausbildung zusammen. In den Schulen wird Musik gar nicht unterrichtet oder auf abwegige Weise, zum Beispiel beschränkt auf eine Plastikflöte, die es in der klassischen Musik nicht gibt, da dieses Instrument von der Didaktik erfunden wurde. Die mangelnde musikalische Ausbildung trägt nicht nur dazu bei, dass italienische klassische Musiker, um erfolgreich zu sein, im Ausland spielen müssen, sondern ist eine echte Gefahr für unsere nationale Kultur. Wenn wir uns dessen nicht bewusst werden, könnte es in zehn oder zwanzig Jahren zu spät sein. 

Dann ist es Aufgabe derer, die in der Musik arbeiten, so zu handeln, dass die Kultur ungehindert zum Publikum vordringt: Oftmals ist es unsere Schuld, wenn wir den kommunikativen Aspekt nicht genug beachten, was zum Beispiel bedeutet, den Eindruck zu vermeiden, dass klassische Musik nur etwas für Experten sei oder dass es sich um eine snobistische Einstellung denen gegenüber handle, die es nicht studiert haben. Ganz im Gegenteil ist sie eine der demokratischsten und universalen Ausdrucksquellen. Ich werde nie müde werden zu wiederholen, dass es unsere Aufgabe ist, die Schönheit der Kunst.